Glaube hilft heilen

Sonntagmorgen. Die Mutter steckt ihren Kopf ins Kinderzimmer und ruft: „Es ist Zeit, Klaus. Du musst aufstehen. Gleich beginnt der Gottesdienst.“ – „Was soll ich da?“ reagiert Klaus verstimmt. „Da sind Menschen, die mögen mich nicht. Nenn mir einen Grund, warum ich da hinsoll.“ – „Du bist der Pastor der Gemeinde!“

Als Klinikseelsorger begegnen mir immer wieder Menschen, die nicht mehr „hochkommen“. Sie fühlen sich wie gelähmt. Nach außen funktionieren sie. Sie arbeiten, sie reden, sie geben sich von ihrer besten Seite, aber tief innen drin ist alles wie abgestorben: keine Freude mehr, keine Kraft – nur noch abgrundtiefe Leere. Markus erzählt in seinem Evangelium die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten (Markus 2, 1-12) – Eine Glaubensgeschichte voller Überraschungen. 

Überraschung Nr. 1: Es gibt einen Glauben, der nicht mehr auf die Beine kommt. Wie ein Lauffeuer hat es sich herumgesprochen. Jesus ist in der Stadt. Alle sind auf den Beinen. Alle wollen den Mann hören, dem man große Dinge nachsagt. Alle? – Naja, nicht ganz alle. An einem geht der ganze Hype völlig vorbei. Während die anderen Jesus an den Lippen hängen, hängt er einfach nur durch. Er liegt, er läuft nicht. Wir erfahren nicht, warum das so ist. Aber eines scheint klar: Die Matte, auf der er liegt, ist keine Hängematte. Er kann nicht, wie er will. Er kommt nicht mehr auf die Beine. Aber er hat Freunde. Freunde, die ihren gelähmten Freund nicht einfach so liegen lassen wollen. Die nächste Überraschung. Normalerweise wird es um Menschen, die keine Kraft mehr haben, auf andere zuzugehen, schnell still, sehr still. 

Überraschung Nr. 2: Es gibt einen Glauben, der Jesus aufs Dach steigt. Gottesdienst in einem kleinen Fischerhaus. Die Menschen lauschen dichtgedrängt der Botschaft des Redners. Auf einmal wackeln die Öllampen. An der Decke zeigen sich erste Risse. Le h m bröckelt auf die andächtigen Häupter. Vier Männer seilen einen Gelähmten ab – direkt vor Jesu Füße. Was für Freunde! Freunde, die aktiv werden, wenn man nicht mehr auf die Beine kommt! „Was habe ich nicht alles schon für kluge Ratschläge von meinen Freunden bekommen“, gestand mir neulich ein Patient resigniert. Ratschläge sind wie Schutzschilde, die das Innerste der Ratgeber schützen. Die Last des unaussprechlichen Leides wird abgewehrt, vom Leibe gehalten mit Weisheiten, die wir so oder ähnlich schon hundert Mal gehört haben. Der Gelähmte in unserer Geschichte hat andere Freunde. Sie wagen etwas, sie packen an. Sie decken nicht mit Worten auf, sie decken ein Dach auf und seilen den Gelähmten mit Muskelkraft ab. Eigentlich ist das, was sie tun, unverschämt. Der Hauseigentümer könnte sie wegen Hausfriedensbruch verklagen. Aber das Verblüffende ist: keiner regt sich auf. Im Gegenteil: das Verhalten der Freunde wird sogar noch von Jesus geadelt. Jesus sieht in ihrem Verhalten einen Glauben, der Bewegung in das Leben des Gelähmten bringt. 

Überraschung Nr. 3: Es gibt einen Glauben, der tieferen Schaden heilt. Jesus heilt den Gelähmten, aber wie er das tut, irritiert. Er sagt: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben.“ Jesus vergibt, bevor er heilt. Die Reihenfolge überrascht. Unser medizinischer Sachverstand sagt uns sofort: Absolution schön und gut, aber der Mann braucht etwas anderes. Wenn in Umfragen gefragt wird, was Menschen im Leben wichtig ist, ist die Gesundheit immer vorne mit dabei. Für Jesus ist Gesundheit wichtig, aber Gesundheit ist nicht alles. Jesus hat immer den ganzen Menschen im Blick. Ein Mensch, der von einer Krankheit geheilt worden ist, ist noch lange nicht heil in seiner Persönlichkeit. Es ist wichtig, dass verborgene und verdrängte Anteile ans Licht kommen. 

  • Der Ehrgeiz, der uns auffrisst. 
  • Der Neid, der uns bitter macht. 
  • Die Habgier, die keine Grenzen kennt. 

Krankheiten sind nicht selten Symptome tiefgreifenderer Störungen. Ich denke an einen Mann, der nicht mehr laufen konnte, nachdem man ihm die Abteilungsleitung entzogen hatte. Kein Arzt konnte ihm helfen. Als die Firmenleitung ihm später mitteilen ließ, die Entscheidung, ihn von der Verantwortung zu entbinden, sei überstürzt gewesen und sie könnten sich ein weiteres Engagement durchaus vorstellen, geschah ein Wunder. Der Mann konnte wieder laufen. Übersteigerter Ehrgeiz und nicht loslassen können, ziehen Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Markus erzählt uns eine Geschichte, die nachdenklich macht. Der Glaube ist gut für viele Überraschungen: Er kommt manchmal nicht mehr auf die Beine. Er steigt anderen aufs Dach. Und er heilt den tieferen Schaden, nicht nur das, was oben auf liegt. 

Friedhelm Grund 

Klinikseelsorger DGD Klinik 

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